Kapitel 7

SAMSTAG, 1. FEBRUAR 1902 –13 UHR

Francesca sah die Angst in Connies Augen, bevor diese den Blick wieder senkte. Der Brougham näherte sich mittlerweile dem Häuserblock, in dem die Villa der Cahills stand. »Was ist es?«, fragte Connie drängend. »Was verschweigst du mir?«

Francesca griff nach den Händen ihrer Schwester und zwang sie, ihr wieder in die Augen zu sehen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals – sie hatte furchtbare Angst, das Falsche zu tun. »Connie, wenn etwas nicht in Ordnung wäre und ich darüber Bescheid wüsste und du darüber vielleicht auch besser Bescheid wissen solltest, würdest du dann wollen, dass ich es dir erzähle?«

Connie saß wie erstarrt da. Sie sah Francesca nur an.

»Geht es um Neil?«, fragte sie schließlich.

Francesca zögerte.

»Es geht um ihn, nicht wahr?« Connie zog ihre Hände weg und sah aus dem Fenster. Ein weiterer, schier endlos langer Moment verging. Francesca schwieg. Sie wollte keinesfalls mit der Wahrheit über Neils Ehebruch herausplatzen, solange sie nicht wusste, ob ihre Schwester bereit war, sich den Tatsachen zu stellen.

»Weißt du was, ich habe meine Meinung geändert. Lass uns doch einen Einkaufsbummel machen!«, rief sie. »Und ich habe eine ganz wundervolle Idee. Warum fahren wir nicht bei Sarah Channing vorbei und fragen sie, ob sie Lust hat, mitzukommen?« Sarah war die junge Frau, mit der ihr Bruder seit kurzem verlobt war, obgleich er eigentlich gegen diese Verbindung war. »Sarah ist eine großartige Künstlerin. Wir werden sie zweifelsohne in ihrem Atelier an der Staffelei vorfinden. Sie ist zwar nicht gerade der Typ Frau, der einem Einkaufsbummel viel abzugewinnen vermag, aber sie würde ihre zukünftigen Schwägerinnen bestimmt gern besser kennen lernen.«

In diesem Moment hielt die Kutsche vor der großen Kalkstein-Villa der Cahills. Connie wandte sich wieder Francesca zu. »Es gibt eine andere Frau«, sagte sie.

Francesca, die gerade Anstalten gemacht hatte, aufzustehen, ließ sich auf die Lederbank zurücksinken. Sie befeuchtete ihre Lippen. »Du ... du weißt davon?«

Connie starrte sie mit einem gequälten Gesichtsausdruck an, der erahnen ließ, wie groß ihre Angst war, die Wahrheit zu erfahren. »Nein. Ich weiß gar nichts. Aber aus irgendeinem Grund scheinst du etwas zu wissen.«

Francesca zog es das Herz zusammen, denn sie wusste, dass ihre Worte Connie unendlich verletzen würden. »Ich ... ich habe Neil mit jemandem gesehen ... mit einer anderen Frau.« Connie saß stumm und bewegungslos da. Von einem Moment auf den anderen schien sie sich in eine hinreißend schöne Elfenbeinstatue verwandelt zu haben.

»Es tut mir so Leid«, flüsterte Francesca.

Wie klein die Kutsche mit einem Mal zu sein schien, wie still der Tag!

»Wie lange weißt du schon davon?«, fragte Connie unvermittelt mit scharfer Stimme. Sie blickte Francesca mit glasigen Augen an. »Er liebt die Mädchen über alles. Er liebt mich über alles. Ich verstehe das einfach nicht!«

Francesca ergriff erneut ihre Hand. »Ich verstehe es ja auch nicht. Ich weiß es erst seit ungefähr einer Woche. Ich dachte, du würdest lieber nichts davon erfahren. Deshalb habe ich nichts gesagt.«

»Bist du dir auch ganz sicher?«, fragte Connie verzweifelt. »Vielleicht hast du die Situation ja einfach nur missdeutet.«

Francesca schwieg für einen Moment. Sie fühlte mit ihrer Schwester, hatte selbst schon viele Tränen wegen dieser Affäre vergossen.

»Ja, ich bin mir ganz sicher. Ich habe alles ganz deutlich gesehen«, sagte sie mit zittriger Stimme.

Connie schlang die Arme um ihren Körper. »Am liebsten wäre ich tot«, sagte sie leise.

»Nein, Con, sag so etwas nicht! Neil liebt dich, da bin ich mir ganz sicher, und du wirst diesem Wahnsinn ein Ende bereiten. Alles wird wieder gut, davon bin ich überzeugt!«, rief Francesca.

Connie blickte ausdruckslos vor sich hin. Ihre himmelblauen Augen füllten sich mit Tränen, und eine kullerte ihr bereits über die Wange.

»Neil liebt dich«, beharrte Francesca und hoffte inständig, dass ihre Worte der Wahrheit entsprachen. Wenn sie ihrer Schwester doch nur diesen schlimmen Schmerz hätte ersparen können!

»Ich muss wissen, mit wem er zusammen gewesen ist. Ich muss einfach wissen, wer sie ist«, sagte Connie.

Francesca zögerte. »Es ist Eliza Burton«, erwiderte sie dann.

Francesca schlüpfte in die große Eingangshalle der Cahill-Villa, die mit einem Marmorboden und korinthischen Säulen ausgestattet war. Die Wände waren ebenfalls mit Marmor vertäfelt, und ein prächtiges Gemälde, das eine ländliche Szene zeigte, zierte die hohe Decke. Francesca fühlte sich schrecklich. Connie hatte sie gefragt, ob sonst noch jemand von Neils Affäre wusste, und Francesca hatte es verneint, obwohl ihr bekannt war, dass Bragg davon wusste. Aber sie hatte ihrer Schwester nicht noch mehr Kummer aufbürden wollen. Sie hatte ihr versprechen müssen, niemandem ein Wort über Neils Affäre zu verraten, nicht einmal Evan und ganz besonders nicht ihrer Mutter.

Francesca schenkte dem Dienstboten, der ihr die Tür geöffnet hatte, ein gequältes Lächeln und reichte ihm ihren Muff, den Hut – aus dem sie zuvor die Nadel entfernte, mit dem er in ihrem Haar festgesteckt war – und ihren pelzgefütterten Mantel. Im Haus war es ruhig. Julia war zweifellos mit irgendwelchen wichtigen Damen der Gesellschaft zum Essen gegangen, und auch Evan war bestimmt schon längst fort. Francesca machte sich auf den Weg in die Bibliothek. Sie wollte einen Blick in die Morgenausgabe der Zeitung werfen – was sie wegen Connies unerwartetem Besuch am Morgen versäumt hatte – und dann eine Mietdroschke nehmen, um Joel zu suchen. Sie hatte den ganzen Nachmittag zur Verfügung, um die Ermittlungen im Randall-Fall fortzusetzen. Francesca glaubte, dass es nicht herauskommen würde, wenn sie die Nachbarn von Georgette de Labouche befragte, solange sie diskret dabei vorging. Allerdings würde sie es nicht wagen, die Witwe zu besuchen, da sie fürchtete, dort Bragg oder einem anderen Polizeibeamten zu begegnen.

Sie betrat die Bibliothek, die ihrem Vater zugleich als Arbeitszimmer diente. Mit der golden durchwirkten Tapete, den Buntglasfenstern, dem dunklen Holzschmuck und den gemütlichen Möbeln stellte sie einen überaus einladenden Zufluchtsort dar. Als Francesca ihren Vater an seinem Schreibtisch sitzen sah, blinzelte sie überrascht. Andrew Cahill schrieb einen Brief und war so darin vertieft, dass er seine Tochter offenbar nicht kommen gehört hatte.

Sie lehnte die Tür hinter sich an und lächelte liebevoll. »Papa, ich habe die zweite Kutsche gar nicht gesehen. Ich wusste nicht, dass du zu Hause bist.«

Cahill zuckte zusammen und blickte auf. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Guten Tag, Francesca. Du hast ja heute Morgen ausnahmsweise einmal recht lange geschlafen.«

In gewisser Weise war in dieser Feststellung eine Frage versteckt, doch Francesca war nicht beunruhigt. Hätte ihre Mutter dagegen eine solche Bemerkung gemacht, hätte Francesca befürchten müssen, dass man ihr auf die Schliche kam.

»Ja, das habe ich«, antwortete sie. »Und es war einfach herrlich. Vielleicht werde ich mir eine solche Faulheit von nun an zur Gewohnheit machen.«

Cahill lachte. »Das kann ich mir bei dir kaum vorstellen.«

Francesca lächelte und ging zum Sofa vor dem Kamin hinüber, wo sie die Zeitungen liegen sah. Sie griff nach der Tribune und überflog rasch die Titelseite. Randalls Ermordung hatte offenbar noch keine Schlagzeilen gemacht, aber Bragg hatte es wieder einmal geschafft. Bragg greift durch, las Francesca. Darunter stand: Hunderte Polizeibeamte degradiert, um Korruption Riegel vorzuschieben.

Anschließend warf sie einen Blick auf die Times. 300 Polizisten degradiert und demoralisiert, las sie. Und weiter: Versetzungen werden Mauschelei bei der Polizei ein Ende bereiten. Bekämpfung von Verbrechen gefährdet?

»Bragg hat den Tiger am Schwanz gepackt«, kommentierte Andrew, der aufgestanden war und zu ihr herüberkam. »Er ist ein mutiger Mann.«

Francesca freute sich über die Berichterstattung, obgleich ihr die Andeutung der Times nicht gefiel, dass Bragg möglicherweise der Tauglichkeit der Polizei Schaden zufügte. »Glaubst du, dass er es überstehen wird, Papa?«

»Das bleibt abzuwarten. Aber durch die Versetzung der Beamten in verschiedene Reviere hat er dem System der Mauschelei und der Korruption einen schweren Schlag versetzt.«

»Ich verstehe. Die Beamten eines bestimmten Bezirks kassieren Bestechungsgelder von den Schnapskneipen, den Bordellbesitzern und den Spielhöllen in ihrem Bezirk. Nun, da sie degradiert und in einen fremden Bezirk versetzt wurden, dürfte es ihnen schwer fallen, sofort wieder ein neues System der Korruption aufzubauen. Wie clever! Und wie mutig dazu! «

»Bragg ist in seiner eigenen Behörde zurzeit nicht gerade sehr beliebt«, erklärte Cahill. »Und wenn du die Times liest, wirst du feststellen, dass einer der Reporter ihm unterstellt, er sei zu schnell vorgegangen. Er behauptet, dass das Verbrechen unter diesen Bedingungen aufblühen werde.«

»Ich bin überzeugt, dass sich Bragg nicht darum schert, ob er beliebt ist oder nicht«, erwiderte Francesca mit Nachdruck. »Aber es würde mir schon etwas Kopfzerbrechen bereiten, wenn ihn seine eigenen Männer verachten sollten.«

»Er muss seinen neuen Polizeichef ernennen, und das möglichst bald.«

»Ja, das ist wohl richtig, aber wie sollte er innerhalb der Ränge einen Verbündeten finden? Es sind doch alle so korrupt!«, rief Francesca.

»Nun, jemand Neues kann er jedenfalls nicht auf diesen Platz setzen. Bragg hat während des Burton-Falls ohnehin schon die Arbeit für zwei erledigt. Er hat genug damit zu tun, gegen die Korruption innerhalb der Behörde anzugehen, da kann er nicht auch noch das Verbrechen auf der Straße bekämpfen.«

Darin stimmte Francesca ihrem Vater zu. Andererseits kannte sie Bragg inzwischen recht gut und glaubte nicht, dass er es sich nehmen lassen würde, die Kriminalität eigenhändig zu bekämpfen. Sie wünschte, sie hätte ihrem Vater von dem Mord an Paul Randall erzählen können, aber das war unmöglich. Zumindest solange es noch nicht in der Zeitung stand.

»Nun, ich glaube, Bragg hat das Richtige getan«, sagte sie schließlich. »Er hat die Behörde aufgerüttelt, und das ist immerhin ein Anfang. Ich glaube nicht, dass er diesen Schritt unternommen hätte, wenn es in irgendeiner Weise die Fähigkeit der Polizei zur Verbrechensbekämpfung gefährden könnte.« Cahill nahm neben seiner Tochter auf dem moosfarbenen Plüschsofa mit den gemusterten Kissen Platz. »Du verhältst dich Rick Bragg gegenüber sehr loyal und unterstützt ihn offenbar, wo du nur kannst.«

Francesca verzog keine Miene und war entschlossen, nicht zu erröten. »Wir sind jetzt Freunde, Papa. Wir haben den Burton-Fall zusammen gelöst.«

Er tätschelte ihr das Knie. »Das weiß ich ja. Und ich bin stolz auf dich, obgleich ich hoffe, dass du dich niemals wieder in eine solche Gefahr begeben wirst. Aber natürlich wirst du, nachdem du einen ganzen Tag von diesem Wahnsinnigen gefangen gehalten wurdest, niemals wieder versuchen, irgendein Verbrechen aufzuklären, nicht wahr?« Er blickte sie forschend an.

Francesca senkte den Blick. »Nun ja ...« Sie brachte es einfach nicht fertig, ihren Vater anzulügen. Er war ihr der liebste Mensch auf der ganzen Welt.

»Francesca!«, rief er. »Du wirst deine Lektion doch wohl gelernt haben?«

Francesca blickte ihn flehentlich an. »Papa, wenn ich Zeugin eines Verbrechens werden würde und niemand dort wäre außer dem Verbrecher und mir, dann würde ich das tun, was ich für richtig halte, das weißt du.«

Er seufzte. »Ja, das weiß ich, aber du solltest dich zurückhalten, wenn es bedeutet, dass du dich dadurch in Gefahr begibst!«

»Das ist mir durchaus bewusst. Aber dennoch – wenn ich sehen würde, wie ein Mann ein kleines Kind schlägt, würde ich um jeden Preis versuchen, ihn aufzuhalten.«

»Womit habe ich nur eine solch couragierte, tapfere und entschlossene Tochter verdient? Francesca, du weißt, dass wir bei den meisten Dingen einer Meinung sind, aber du musst mir versprechen, dich in Zukunft von Bragg fern zu halten.« Als er Braggs Namen aussprach, kniff er ein wenig die Augen zusammen.

Sie stand auf und rang die Hände. »Das darfst du nicht von mir verlangen, Papa!«

Er sprang ebenfalls auf. »Doch, das verlange ich!«

»Aber ich kann dir dieses Versprechen nicht geben. Ich kann es einfach nicht.«

Andrew blickte sie ungläubig an. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich es fragen sollte, aber ich tue es dennoch: Hat diese Weigerung etwas mit deinem Interesse an Recht und Gesetz zu tun – oder mit Bragg als Mann?«

Francesca errötete und öffnete den Mund, um ihm zu antworten, dass es natürlich nur mit Ersterem etwas zu tun hatte, aber die Worte wollten ihr einfach nicht über die Lippen kommen. »Ich verstehe«, sagte Andrew grimmig.

»Wir sind bloß Freunde«, brachte sie schließlich hervor. »Mehr nicht.«

Er nickte und schwieg für einen Moment. »Ich bin ein guter Freund von Rick. Ich bewundere ihn aufrichtig und respektiere ihn. Aber er ist nicht der Richtige für dich, Francesca.«

Sie blickte ihn bestürzt an. Julia hatte ihr genau das Gleiche gesagt. »Und warum nicht? Weil er unehelich geboren wurde?«

»Hat dir deine Mutter das erzählt?«, fragte Andrew überrascht.

Sie nickte.

»Nun, es liegt in der Tat ein Schatten auf seiner Vergangenheit, aber nein, das ist nicht der Grund. Bitte vertraue mir. Er ist nicht der Richtige für dich, Francesca, also verliere dein Herz nicht an einen Mann, der deine Gefühle niemals erwidern kann.«

Seine Worte wirkten wie ein Schlag ins Gesicht. »Warum sagst du so etwas?«

»Weil ich glaube, die Pflicht dazu zu haben.« Er tätschelte ihre Schulter. »Es tut mir Leid, wenn ich dich damit verletze, Herzchen.«

»Hat Bragg irgendetwas über mich gesagt? Hat er in irgendeiner Weise angedeutet, dass er mich niemals ... mögen könnte? Gibt es eine andere Frau?«

»Francesca, ich weiß, dass du nicht die Richtige für ihn bist und er nicht der Richtige für dich ist – also belassen wir es dabei.«

Sie wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen, riss sich aber zusammen.

»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten«, sagte Andrew und beendete damit das Thema.

Francesca hörte kaum, was er sagte. Wenn sie doch nur gewusst hätte, warum ihr Vater so unnachgiebig war. Aber er täuschte sich in seiner Einschätzung doch gewiss – oder etwa nicht?«

Allerdings hatte Bragg, obgleich es manchmal so schien, als ob er sie mögen würde, den geplanten Ausflug ohne Begründung abgesagt. Und es war ihm offenbar nicht in den Sinn gekommen, einen neuen Termin auszumachen.

Francescas Laune sank auf einen Tiefpunkt. »Worum geht es denn, Papa?«

»Um Evan«, erwiderte Andrew mit finsterer Miene.

Francesca ließ sich wieder auf die Sofakante sinken. »Und was ist mit ihm?«

»Er hat seit seiner Verlobungsfeier vor einer Woche nicht mehr mit mir gesprochen. Ich weiß, dass er wegen der Verlobung und meiner Weigerung, seine Spielschulden zu bezahlen, verstimmt ist, aber er ist mein Sohn, Francesca. So kann das nicht weitergehen. Du musst mit ihm sprechen. Wenn ihm jemand begreiflich machen kann, dass er sich ändern muss – und dass Sarah Channing ihm dabei helfen wird -, dann bist du es.« Andrew verstummte.

Evan war in der Tat furchtbar aufgebracht darüber, dass man ihn zwang, eine Frau zu heiraten, die er nicht liebte. Sein Vater hatte ihm begreiflich gemacht, dass er nicht bereit war, Evans große Spielschulden zu bezahlen, wenn er sich weigerte, diese Ehe einzugehen. Francesca, die sich für Evan eine Heirat aus Liebe gewünscht hätte, hatte bereits versucht, für ihn einzutreten, aber ihr Vater war unnachgiebig geblieben.

»Natürlich werde ich mit ihm reden, Papa«, versicherte sie ihm.

Andrew strahlte sie an. »Ich wusste, dass du das tun würdest.«

»Ich werde mit ihm reden, obwohl ich in dieser Angelegenheit ganz und gar nicht deiner Meinung bin. Sarah und Evan passen nicht zueinander, und ich halte ihre Verlobung für einen schrecklichen Fehler.«

Da Andrew die zweite Kutsche an diesem Tag nicht mehr benötigen würde, weil er sich weiter der Erledigung von Schreibarbeiten widmen wollte, machte sich Francesca darin auf den Weg durch den samstäglichen Verkehr auf der Upper East Side. Straßenbahnen, Hansoms und elegante Broughams kämpften an jeder Kreuzung um die Vorfahrt; Bahnen bimmelten, und gelegentlich ertönte ein ungeduldiges Hupen. Auf der Fifty-seventh Street regelte ein Polizist in blauer Uniform den Verkehr, doch niemand schien auf ihn zu achten. Die Fußgänger eilten einfach zwischen den Kutschen und den vereinzelten Automobilen hindurch. Francesca benutzte nicht gern Mietdroschken oder Bahnen, wenn sie zu den ärmeren Stadtvierteln unterwegs war, in denen viele Verbrechen geschahen. Auf der Lower East Side fiel sie stets auf, selbst wenn sie verkleidet war. Dies war ihr anlässlich einer unangenehmen Begegnung während des Burton-Falles überaus bewusst geworden.

Das Viertel, in dem Georgette de Labouche wohnte, bereitete Francesca allerdings keine Sorgen. Sie hatte beschlossen, sich allein dorthin zu wagen, falls sie Joel nicht finden sollte.

Nach und nach veränderte sich das Straßenbild. Man sah kaum noch elegante Kutschen, die auf wohlhabende Insassen schließen ließen, und als sich Francescas Kutsche der Tenth Street und der Avenue A näherte, bestand der größte Teil des Verkehrs aus Fuhrwerken, die mit Waren und Gütern beladen waren. Straßenhändler boten den Passanten – von denen es trotz der Kälte auf den Gehsteigen nur so wimmelte – eine eigenartige Mischung von Dingen feil: Neben Handschuhen und Ohrenschützern gab es frische Brezeln und gewürzte Schweineohren zu kaufen. Die Menschen waren so dick eingemummelt, dass man kaum auszumachen vermochte, ob es sich um Männer oder Frauen handelte, aber Francesca wusste, dass zu dieser Stunde zumeist arme Immigrantenfrauen auf dem Weg zur Arbeit in einer Fabrik waren, die zu Hause viele Mäuler zu stopfen hatten.

In jedem Häuserblock gab es mindestens eine, manchmal sogar zwei oder drei Schenken, und sie schienen ein gutes Geschäft zu machen. Immer wieder torkelten betrunkene Gäste – Männer wie Frauen – über die Straßen. Francesca wusste, dass es die hochgesinnten Bürger der Stadt – die Geistlichkeit eingeschlossen – in aller Schärfe ablehnten, dass trotz der so genannten Blue Laws, der Sonntagsschließungsgesetze, an diesem Tag Alkohol ausgeschenkt wurde. Dennoch war es seit langem üblich, dass die Polizei dies ungestraft durchgehen ließ. Bragg stand unter dem Druck, das Gesetz durchzusetzen und dafür zu sorgen, dass die Schenken an Sonntagen geschlossen blieben – nur eines von vielen Problemen, die der neue Commissioner zu bewältigen hatte.

Beim Gedanken an Bragg fragte sich Francesca erneut, warum ihr Andrew wohl untersagt hatte, irgendwelche romantischen Gefühle für Bragg zu hegen. Offenbar wusste er etwas, wovon sie keine Ahnung hatte.

»Miss Cahill? Wir sind da, Nummer 201 in der Avenue A«, sagte in diesem Moment der Kutscher, der die Trennscheibe zum Inneren der Kutsche geöffnet hatte.

Francesca zuckte zusammen. »Oh! Vielen Dank«, sagte sie. Als sie sich zur Tür drehte, um auszusteigen, erblickte sie Joel, der neben der Kutsche stand und sie angrinste.

»Wo ham' Sie denn den ganzen Tag gesteckt, Miss?«, fragte er. Er hatte die Hände in die Taschen seines zu weiten, zerlumpten Mantels gestopft und zitterte vor Kälte. »Ich hab die ganze Zeit auf Sie gewartet.«

Francesca strahlte. »Wenn ich das gewusst hätte! Steig nur ein. Wir werden uns ein wenig in Miss de Labouches Nachbarschaft umsehen und schauen, ob wir dort etwas herausfinden.« Joel kletterte in die Kutsche und nahm neben Francesca Platz, während sie dem Kutscher die neue Adresse mitteilte. »Es ist schon zwei Uhr«, beschwerte sich der Junge.

»Ich weiß. Um zwölf habe ich Calder Hart einen Besuch abgestattet.« Francesca erzählte dem Jungen einen Teil von dem, was geschehen war.

Joel hörte ihr aufmerksam zu. »Miss Cahill, Sie müssen dem Commissioner aus dem Weg gehen. Ich hab gesehen, wie sauer er gestern Nacht gewesen ist. Er will nich, dass Sie sich in diesen Fall einmischen.«

»Ich bin mir dessen durchaus bewusst, aber es ist zu spät, denn ich stecke bereits mittendrin«, erwiderte Francesca mit fester Stimme. »Ist dir irgendetwas zu Ohren gekommen, Joel? Was 'munkelt' man denn so auf der Straße?«

»Hier in der Gegend gar nix. Das hab ich auch nich anders erwartet«, sagte Joel. »Aber ich hör mich gerne ein bisschen für Sie um, wenn wir zum Haus dieser Frau kommen, deren Namen ich mir einfach nich merken kann.«

»Das wäre ganz wunderbar«, sagte Francesca lächelnd und tätschelte seine Hand.

Plötzlich beugte sich Joel nach vorn und schaute aus dem Fenster. »Teufel noch mal!«, rief er. »Ist das nich Ihr Bruder?«

»Wie bitte?« Francesca blickte an dem Jungen vorbei auf die Straße.

Sie waren auf den Broadway abgebogen und fuhren in einem zügigen Tempo dicht hinter einem Omnibus her in nördlicher Richtung. Francesca blickte in eine der neben ihnen fahrenden Kutschen und fuhr unwillkürlich zusammen.

In der Kutsche saß Evan und neben ihm eine Frau, die ihr nicht unbekannt war.

Aber es war nicht etwa seine Verlobte, Sarah Channing. Es war Evans Geliebte, die hinreißende und berühmte Bühnenschauspielerin Grace Conway, und so, wie es aussah, war die Affäre noch nicht beendet.

Vor Georgette de Labouches Haus stand ein uniformierter Polizist Wache, doch ansonsten gab es keine Anzeichen von Aktivität in dem Haus, wie Francesca erleichtert feststellte.

Ihre Gedanken weilten noch bei ihrem Bruder, als sie an die Tür des Nachbarn klopfte. Sie liebte Evan über alles; sie respektierte und bewunderte ihn – und das obwohl er ihr vor kurzem gestanden hatte, dass er aufgrund seiner Vorliebe fürs Glücksspiel hoch verschuldet war. Viele Männer spielten, und Francesca war sich sicher, dass Evan sich bessern würde, sobald seine Schulden erst einmal bezahlt waren. Ihr Vater hatte versprochen, sie jetzt, da er mit Sarah verlobt war, für ihn zu begleichen. Wie konnte Evan sich in dieser Situation nur mit seiner Geliebten herumtreiben? Immerhin war er jetzt verlobt und schuldete Sarah Channing seine Loyalität und auch sein Herz!

Francesca hatte keinen Zweifel daran, dass es jene Schauspielerin war, die neben Evan gesessen hatte. Sie hatte die beiden einige Monate zuvor schon einmal zusammen auf der Straße gesehen, sich aber nicht bemerkbar gemacht.

Als sie jetzt den Türklopfer an dem Nachbarhaus betätigte, schoss ihr durch den Kopf, dass Evan sich womöglich nur mit Grace Conway getroffen hatte, um die Affäre zu beenden.

Ein Gefühl der Erleichterung überkam sie. Natürlich musste das der Grund sein, warum ihr Bruder sich mit seiner früheren Geliebten verabredet hatte, denn immerhin war er ein Mann von Charakter!

Ein erschöpft wirkendes Hausmädchen in einem schlecht sitzenden schwarzen Kleid öffnete die Tür.

Francesca lächelte und reichte ihr ihre Visitenkarte. »Wäre der Herr oder die Herrin des Hauses zu sprechen?«

Das Mädchen nickte und schloss die Tür wieder, ohne ein Wort zu verlieren. Francesca warf Joel einen Blick zu. Der Junge seufzte. »'nen Mörder zu jagen hatte ich mir ja eigentlich anders vorgestellt«, sagte er. »Ist ziemlich langweilig, was?«

»Wir haben ja gerade erst mit unseren Nachforschungen begonnen. Sag, hast du schon einmal etwas von den Schwestern Daisy und Rose Jones gehört? Es sind Frauen von zweifelhaftem Ruf.«

»Nicht, dass ich wüsste, aber solche Damen gibt's ja zur Genüge. Soll ich die beiden für Sie ausfindig machen?«

»Sieh einmal zu, was du über sie herausfinden kannst. Sie sollen irgendwo auf der Forty-eight Street und der Third wohnen. Wenn uns noch genug Zeit bleiben sollte, werden wir gleich im Anschluss den Randalls einen Besuch abstatten, sofern die Polizei nicht gerade dort ist. Und morgen schauen wir dann einmal bei diesen beiden Schwestern vorbei.«

»Warum?«

Francesca verzog das Gesicht. »Nun, Bragg scheint zu glauben, dass ein gewisser Gentleman ein möglicher Verdächtiger in diesem Mordfall sein könnte. Und dieser Herr behauptet, zur fraglichen Zeit mit den beiden Frauen zusammen gewesen zu sein.« Sie wollte Joel nicht verraten, dass es sich bei dem Verdächtigen um Hart handelte.

Joel grinste. »Mit beiden?«

Francesca errötete. Genau dieser Gedanke war ihr auch schon durch den Kopf gegangen. »Ich bin sicher, dass er nur eine der beiden Schwestern besucht hat«, erklärte sie mit fester Stimme. Joel lachte und schüttelte den Kopf.

In diesem Augenblick wurde die Tür erneut geöffnet, und das Mädchen drückte Francesca die Visitenkarte in die behandschuhte Hand. »Sind ausgegangen«, sagte das Mädchen und schlug Francesca die Tür vor der Nase zu.

Sie blinzelte ungläubig. »Wie unhöflich!«, rief sie.

»Und was nun?«, fragte Joel, doch Francesca antwortete ihm nicht. Sie schlug bereits mit der Faust wiederholt kräftig gegen die Tür.

Aber offenbar hatte das Mädchen nicht die Absicht, erneut zu öffnen, und ganz offensichtlich hatte ihr ihre Herrschaft mitgeteilt, dass sie Francesca nicht zu empfangen gedachte. »Der Polyp interessiert sich für uns«, bemerkte Joel. »Bragg ist hier?«, rief Francesca entsetzt und fuhr herum. »Nein, Miss, ich meine den Blauen auf der Treppe vor dem Haus, wo diese Labouche drin wohnt.«

Francesca sah, dass sie der Streifenpolizist, der den Eingang zu Georgettes Haus bewachte, in der Tat beobachtete. Sie warf ihm einen, wie sie hoffte, gebieterischen Blick zu und wandte sich von dem Haus ab. Leider weigerten sich die beiden nächsten Nachbarn auch, mit ihr zu reden. Ihre Dienstboten murmelten Entschuldigungen, ließen das Bedauern ihrer Herrschaften ausrichten und gaben ihr ihre Karte zurück.

Francesca war ratlos. »Irgendjemand muss doch etwas gesehen haben!«, rief sie verzweifelt.

»Wo viele sind, harn auch viele was gesehen«, erklärte Joel mit wissender Stimme. »Warten Sie hier. Bin gleich wieder da.«

»Joel ...«, hob sie an, um ihn zu fragen, was er vorhatte, aber er eilte bereits um die Ecke des Hauses, vor dem sie gerade standen. Nach hinten hinaus lagen zweifellos winzige Höfe mit Wäscheleinen, die an einem solch kalten Tag sicherlich leer waren.

Francesca begann allmählich vor Kälte zu zittern und fragte sich, ob sie ihre Nachforschungen für diesen Tag nicht besser beenden sollte. Sie wollte unbedingt noch mit Evan reden und außerdem kurz ihre Schwester besuchen, um zu schauen, wie es ihr ging. Francesca selbst war unglaublich wütend gewesen, als sie entdeckt hatte, dass ihr Schwager eine Affäre hatte – wie schlimm musste es da erst für Connie sein!

»Kann ich Ihnen helfen?«, ertönte in diesem Moment eine Stimme.

Francesca zuckte zusammen und drehte sich um. Hinter ihr stand Arthur Kurland, ein äußerst unangenehmer Reporter von der Sun, und grinste sie an. Er war Anfang dreißig, hatte bereits schütter werdendes Haar und tauchte immer dann auf, wenn man ihn am wenigsten gebrauchen konnte.

»Miss Cahill, nicht wahr?«

»Guten Tag, Mr Kurland, und nein, Sie können mir nicht helfen, es sei denn, Sie haben Neuigkeiten über den Randall-Mord«, sagte Francesca kühl.

Er grinste sie immer noch an. »Sollte ich Sie in irgendeiner Weise beleidigt haben? Ihr Tonfall scheint mir so etwas anzudeuten. «

Sie reckte ihr Kinn in die Höhe. »Ich mag es nun einmal nicht, wenn man mir nachspioniert.«

»Ich tue nur meine Arbeit.« Der Kerl war gerissen. »Der Commissioner wohnt ganz hier in der Nähe, wissen Sie.«

Darauf fiel Francesca keine Antwort ein. Sie wusste sehr wohl, dass Bragg nur wenige Straßen entfernt wohnte, und Kurland wiederum wusste, dass ihr diese Tatsache nicht unbekannt war. Schließlich hatte er sie eine gute Woche zuvor dabei beobachtet, wie sie – ohne jede Begleitung – Braggs Haus zu einer sehr ungewöhnlichen Stunde betreten und es später in einem arg zerzausten Zustand wieder verlassen hatte. »Mr Bragg befindet sich mit Sicherheit in seinem Büro im Polizeipräsidium«, sagte sie kühl.

»Randalls Mätresse ist immer noch verschwunden«, bemerkte Kurland. »Aber sie haben die Waffe gefunden. Eine kleine Derringer mit perlenbesetztem Griff, wie sie gern von Damen benutzt wird.«

»Oder von vornehmen Gentlemen«, konterte Francesca.

Er nickte. »Ja, auch von denen.«

»Gibt es irgendwelche neuen Entwicklungen?«, konnte sich Francesca nicht verkneifen zu fragen.

»Die gibt es. Aber wenn ich Ihnen etwas verraten soll, müssen Sie mir auch etwas dafür geben«, erwiderte er. »Ein kleines Tauschgeschäft, nichts weiter.«

»Aber das ist Erpressung!«, rief Francesca entgeistert.

Er kicherte. »Sie sind noch so jung, Miss Cahill, viel zu jung für eine Detektivin.«

Sie blinzelte. »Woher – woher wissen Sie davon?«

»Es gehört mit zu meinem Aufgaben, Bescheid zu wissen, was in dieser Stadt vor sich geht – zumindest soweit es das Verbrechen betrifft. Und was ich Ihnen vorgeschlagen habe, ist beileibe keine Erpressung. Man nennt es Informationsaustausch, und es ist in meiner Branche allgemein üblich.«

Francesca fragte sich, ob Kurland wohl tatsächlich im Besitz von lohnenswerten Informationen war und was sie ihm berichten könnte. »Wer fängt an?«, fragte sie schließlich.

»Sie.«

»Aber was ist, wenn es sich bloß um einen Trick handelt?«

»Nun, wie heißt es so schön? Aus Schaden wird man klug. Und Sie riskieren dabei nur einen geringen Schaden – aber es dürfte wohl kaum in meinem Interesse sein, dass Sie mir niemals wieder vertrauen.«

Sie nahm seine Worte in sich auf. »Miss de Labouche ist meine Klientin.«

Er kicherte erneut. »Das reicht nicht, Miss Cahill.«

»Miss de Labouche wollte die Leiche verstecken«, fuhr sie fort.

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. »Ich fürchte, das dürfte immer noch nicht ausreichen, Miss Cahill. Oder darf ich Sie Francesca nennen?«

»Das dürfen Sie nicht«, entgegnete sie mit scharfer Stimme. »Ich glaube, jetzt sind Sie an der Reihe.«

»Nicht bevor Sie mir etwas erzählt haben, was ich noch nicht weiß.«

Doch Francesca wagte nicht, noch mehr zu sagen.

»Warum waren Sie, Ihre Schwester und Bragg heute Morgen bei Calder Hart?«

Francesca entfuhr ein Keuchen. »Sie spionieren mir nach!«

»Ist er etwa in den Mordfall verwickelt?«

Francesca wandte sich ab. »Leben Sie wohl, Mr Kurland.«

Er ergriff ihren Arm, worauf sie einen kleinen Schrei ausstieß. »Einer der Nachbarn hat am Mordabend um kurz vor acht Uhr einen dunkelhaarigen, gefährlich aussehenden Mann dabei beobachtet, wie er die fragliche Wohnung verlassen hat.«

Francesca starrte den Reporter an. Dunkelhaarig und gefährlich wirkend – diese Beschreibung passte ganz wunderbar auf Calder Hart.

»Jetzt sind Sie an der Reihe«, sagte Kurland barsch.

»Ich ...«, setzte sie an und verstummte.

»Was hat Hart mit der Sache zu tun? In welcher Verbindung stand er zu Randall? Ich werde es ohnehin herausfinden, Miss Cahill, das wissen Sie, aber Sie sind mir jetzt etwas schuldig.« Ihre Wangen glühten. Handelte es sich um Wissen, das der Allgemeinheit zugänglich war? Bestimmt war es irgendwo registriert. Sie zögerte.

»Nun?«, drängte der Reporter.

Sie seufzte. »Randall war Harts Vater.«